Die Kaschauer Zeitung Anzeigenwerbung im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhundert

13.02.2015 19:59

Anzeigenwerbung im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts

 

Jörg Meier

 

Im 18. Jahrhundert entstanden die sog. Intelligenzblätter, die auf Anzeigen spezialisiert waren und es wurde eine eigene Steuer für diese Anzeigen erhoben. Etwa 100 Jahre später entdeckten schließlich die Zeitungen die Möglichkeit, sich mit Hilfe der Werbung zu finanzieren und dadurch den Kaufpreis für die Leser zu verringern. Der Einfluss der Wirtschaft stieg und im Zuge der Industriellen Revolution entstand die Massenproduktion. Von diesem Zeitpunkt an wurde die Werbung nicht mehr von den Händlern, sondern von den Erzeugern der Waren kontrolliert.

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderte sich die Werbung sowohl quantitativ als auch qualitativ. Nach der Freigabe des Anzeigenwesens bestand Werbung meist nur aus Produkthinweisen, doch ab 1870 wurde der Stil immer sensationslüsterner und in der Folgezeit richtete sich die Werbung erstmals an spezielle soziale Schichten – es entstand die Zielgruppenwerbung.

Der Aufschwung der Werbebranche führte dazu, dass der redaktionelle Anteil in den Zeitungen immer geringer wurde und stattdessen der Werbeanteil kontinuierlich wuchs. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren viele Tageszeitungen mehr oder weniger zu Anzeigenblättern geworden, so dass einige Zeitungen bis zu 80 Prozent aus Werbung bestanden (vgl. zur Werbegeschichte u.a. Koszyk 1992; Gries/Ilgen/Schindelbeck 1995; Kriegeskorte 1995; Zurstiege 2007; Meier 2011; Meier 2012; Meier 2014; Meier 2015).

Bis „weit ins 19. Jahrhundert hinein hatten Warenangebote die schlicht informative Form von Mitteilungen“ über eingetroffene und zu bekommende Produkte (von Polenz 1999, 91). Im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden im Anzeigenteil Formen, die sich zunehmend vom Nachrichtenstil entfernten: „Einrahmung, typographische Differenzierung, lockere Anordnung der Textteile mit leeren Zwischenräumen und kleinen bildlichen Warendarstellungen“ sowie „die kleine schwarze Hand mit Zeigefinger als Mittel des Leseanreizes“ (ebd.).

Nach der Jahrhunderthälfte „traten Warenanpreisungen mit lexikalischen Mitteln in den Vordergrund, kamen typographische und bildliche Reizmittel der Notwendigkeit des selektiven Lesens im Überangebot von Informationen und Waren entgegen“, und zum Ende des Jahrhunderts „spielte das Firmenimage, mit Darstellungen von Fabrikanlagen und festen, plakativ wirkenden Warenbezeichnungen eine große Rolle“, außerdem psychologische Tricks zunehmend professionellerer Werbetexter (ebd.).

Die größten Veränderungen fanden in der Übergangszeit vom 19. zum 20. Jahrhundert statt, denn zur umfassenderen typographischen Gestaltung trat die Illustration und das Vokabular wurde breiter und umfasste zunehmend Abstrakta sowie Marken- und Produktnamen. Die Syntax schrumpfte auf einen Telegrammstil zusammen, in dem nominale Kurzformen unverbunden nebeneinander gestellt wurden.

Neu waren zudem Ausdrücke, die die Ware emotional aufwerteten und personifizierten (vgl. Bendel 1998, 7f.). Um die Jahrhundertwende starteten Unternehmen wie Maggi, Odol oder Nivea groß angelegte Werbekampagnen, um ihr Produkt als Marke zu etablieren. Aufgrund dieser Bemühungen verbinden wir bis heute viele Markennamen mit Produktnamen, wie z.B. Nivea = Feuchtigkeitscreme, Tempo = Taschentuch, oder Aspirin = Schmerzmittel.

Parallel zu der Markennamen-Entwicklung versuchten Firmen in dieser Zeit erstmals Bedürfnisse im Konsumenten zu wecken und die Werbung versuchte den potentiellen Kunden davon zu überzeugen, dass er das Produkt unbedingt benötigt.

Werbeanzeigen sind ein Spiegel ihrer jeweiligen Gesellschaft und nur im Rahmen dieser zu erfassen. Bei gleicher Textfunktion können sich Form und Inhalt unabhängig voneinander wandeln. Dieser Wandel ist weder zufällig noch in der Texteigendynamik begründet, sondern in den kulturellen Rahmenbedingungen der Texte. Dies gilt zwar prinzipiell für alle Textsorten, aber Werbeanzeigen sind sowohl in sprachlich-formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht besonders geeignete Untersuchungsobjekte.

In sprachlich-formaler Hinsicht erweist sich die Textsorte Werbeanzeige als besonders interessant: Einerseits muss sie sich an den sprachlichen Tendenzen ihrer Zeit orientieren, weil sie akzeptiert werden will. Andererseits muss sie sich aber auch abheben, weil sie auffallen will.

In inhaltlicher Hinsicht ist die Werbeanzeige besonders im Hinblick auf ihre zeitspezifischen Konnotationen interessant, weil sie in enger Verbindung und Abhängigkeit zu den wichtigsten medialen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen steht:

•        Zeitgeist: Werbung muss (auch) den inhaltlichen Geschmack der Bevölkerung treffen.

•        Wirtschaft: Sie ist ein wichtiger Teil des Absatzes.

•        Politik: Sie kann nur das realisieren, was erlaubt ist.

•        Medien: Sie ist in Form und Inhalt von medialen Entwicklungen abhängig.

Werbung ist nicht nur Abbild, sondern auch Teil des gesellschaftlichen Systems. Damit ist sie potentiell in der Lage auch selbst Einflussfaktor sowohl in sprachformaler als auch in inhaltlicher Hinsicht zu sein, abhängig von ihren jeweiligen Rahmenbedingungen. Werbung ist daher für sprachhistorische Forschungen besonders relevant (vgl. Meier 2011).

 

Literaturhinweise

Bendel, Sylvia (1998): Werbeanzeigen von 1622-1798. Entstehung und Entwicklung einer Textsorte. (Reihe Germanistische Linguistik 193). Tübingen.

Gries, Rainer/Ilgen, Volker/Schindelbeck (Hrsg.) (1995): „Ins Gehirn der Masse kriechen!“ Werbung und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt.

Koszyk, Kurt (1992): Geschichte des Anzeigenwesens. In: Eva Brand/Peter Brand/Volker Schulze (Hrsg.): Medienkundliches Handbuch: Die Zeitungsanzeige. 4., überarb. und erw. Aufl. Aachen.

Kriegeskorte, Michael (1995): 100 Jahre Werbung im Wandel. Eine Reise durch die deutsche Vergangenheit. Köln.

Meier, Jörg (2011): Untersuchungen zur Anzeigenwerbung in deutschsprachigen Zeitungen Mitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Mitteleuropäische Germanistik (ZMG), 1/2011, 61-78.

Meier, Jörg (2012): Andersschreiben in der Werbung. In: Britt-Marie Schuster/Doris Tophinke (Hrsg.): Andersschreiben: Formen, Funktionen, Traditionen. (Philologische Studien und Quellen 236). Berlin, 341-361.

Meier, Jörg (2014): Anzeigenwerbung im 18. Jahrhundert. In: Peter Ernst/Jörg Meier (Hrsg.): Kontinuitäten und Neuerungen in Textsorten- und Textallianztraditionen vom 13. bis zum 18. Jahrhundert. (Germanistische Arbeiten zur Sprachgeschichte 10). Berlin, 275-291.

Meier, Jörg (2015): Werbesprachenforschung in Europa. Eine Einführung. In: Jörg Meier (Hrsg.): Europäische Werbesprachenforschung. (Europäische Studien zur Textlinguistik. Bd. 15). Tübingen [erscheint].

Polenz, Peter von (1999): Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. III. 19. und 20. Jahrhundert. Berlin, New York.

Zurstiege, Guido (2007): Eine kurze Geschichte der Werbung. In: Guido Zurstiege: Werbeforschung. Konstanz.