Die Kaschauer Zeitung als Objekt der Sprachgeschichte

13.02.2015 19:59

Die Kaschauer Zeitung als Objekt der Sprachgeschichte 

Jörg Meier

Im Rahmen des Projekts soll untersucht werden, wie sich Pressetexte im Laufe einiger Jahrzehnte des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts verändert und auf Entwicklungen im Zeitgeschehen reagiert und verschiedene Zielgruppen berücksichtigt haben. Dabei soll festgestellt werden, ob es eine Widerspiegelung der sozial-politischen und marktwirtschaftlichen Veränderungen in der Pressesprache gibt.

Ausgehend von der These, dass eine sich verändernde gesellschaftliche Realität in der Nachfolge sprachliche Prozesse initiiert und determiniert, soll das Ziel der Untersuchungen darin bestehen, anhand eines sprach- und sozialgeschichtlich bedeutenden Korpus sprachliche Veränderungen auf verschiedenen Ebenen zu konstatieren und im Hinblick auf die vorherrschenden politischen sowie sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Realitäten sprachwissenschaftlich zu analysieren. Für das Projekt wesentlich ist, dass die Texte der Kaschauer Zeitung aus unterschiedlicher Perspektive betrachtet und vergleichbare Analysen auf verschiedenen sprachlichen Ebenen (Text, Syntax, Lexik) durchgeführt werden.

Die zentralen zu beantwortenden Fragestellungen der geplanten Studien lauten:

·         Welche Einflüsse wirken auf die Pressesprache ein und wie beeinflusst Pressesprache die Alltagssprache?

·         Was sind Innovationen, die nur oder besonders durch die Pressesprache vermittelt werden?

·         Welche Rolle spielen Sprachkontaktphänomene und in welchen Kontexten werden Internationalismen und Fremdwörter verwendet?

·         Fanden spezifische sprachliche und stilistische Mittel Verwendung und wenn ja, mit welcher Intention und zu welchem Zweck?

·         Lassen sich Zeitpunkte datieren, zu denen sich die Sprache der Pressetexte generell oder in einem bestimmten Bereich änderte, determiniert durch politische, gesellschaftliche und/oder wirtschaftliche Wandlungsprozesse, oder erfolgt dieser Vorgang sukzessiv.

·         Welche Erklärungen können im Einzelnen für nachweisbare Veränderungen in den Zeitungstexten angeführt werden?

Die übergeordnete These der geplanten Untersuchungen lautet: Pressetexte sind ein Spiegel ihrer jeweiligen Gesellschaft und nur im Rahmen dieser (vollständig) zu erfassen. Detaillierter betrachtet bedeutet das: Bei gleicher Textfunktion können sich Form und Inhalt unabhängig voneinander wandeln. Dieser Wandel ist weder zufällig noch in der Texteigendynamik begründet, sondern in den kulturellen Rahmenbedingungen der Texte.

Zeitungstexte sind nicht nur Abbild, sondern auch Teil des gesellschaftlichen Systems. Damit sind sie potentiell in der Lage auch selbst Einflussfaktor sowohl in sprachformaler als auch in inhaltlicher Hinsicht zu sein, abhängig von ihren jeweiligen Rahmenbedingungen.

Zeitungstexte sind daher für sprachhistorische Forschungen besonders relevant. Doch obwohl Periodika ein wichtiges Mittel der Informationsvermittlung sind und sich ihnen die unterschiedlichsten, sich ständig wandelnden textlichen Formen des Mitteilens, Berichtens oder Bewertens finden, und sie deshalb ein bevorzugtes Objekt für jeden Sprachwandelforscher sein könnten, und obwohl Zeitungen spätestens seit dem 19. Jahrhundert zu Massenkommunikationsmitteln werden, die viele Bevölkerungsschichten erreichen, ist ihre Bedeutung für die historische Textsortenforschung und die Untersuchung von sprachlichen Standardisierungsprozessen in unterschiedlichen deutsch- und mehrsprachigen Regionen und Städten, bisher nicht umfassend und ausreichend dargestellt worden. Dementsprechend besitzen wir kaum Kenntnisse darüber, inwieweit unterschiedliche Rahmenbedingungen sich funktional, thematisch und sprachstrukturell auswirken. Durch die Erforschung von historischen Zeitungen sollen in dem geplanten Projekt wesentliche Beiträge zur Diskurs- und Textsortengeschichte, zur Erforschung von Ausgleichs- und Standardisierungsprozessen sowie zur Sprachkontaktforschung geleistet werden.

In verschiedenen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte wird Sprachgeschichte im Sinne einer Sprachverwendungs- und Kommunikationsgeschichte gesehen, da auch historische Texte besser im Diskurs, in der sozialen Interaktion vollständig zu verstehen sind (Große 1991, 16). Eine soziolinguistisch orientierte Sprachgeschichtsschreibung geht über bloße historische Linguistik hinaus und weist auf historische Zusammenhänge zwischen Sprache und Gesellschaft im Rahmen kommunikativer Praxis hin (von Polenz 2000, 9). Dabei kommt der Darstellung der Mediengeschichte sowie der Textsortenentwicklung ein besonderer Stellenwert zu (vgl. Schank 1984; von Polenz 1991; Steger 1998; von Polenz 2000, 114ff.).

Eine Aufgabe der modernen Sprachhistoriographie besteht darin, die alltäglichen Kommunikationsnetze, ihre Entstehung, Veränderung und Frequentierung und deren grundsätzliche Bedeutung für die Entwicklung der Sprache aufzuzeigen, ohne den direkten Einfluss auf die Sprache in jedem einzelnen Fall immer beweisen und beziffern zu können (vgl. Wegera 1998, 141).

Damit wird die Beschreibung der historischen Kommunikationspraxis einer Sprachgemeinschaft, also auch der alltäglichen Kommunikation samt ihrer Netzwerke und der aus diesen Zusammenhängen resultierenden und in diesen Diskursen wirkenden Texten und Textsorten, zu einem zentralen Bestandteil der Sprachgeschichte (vgl. Meier 2004).

Textsortengeschichtlich ist im Rahmen des Projekts von besonderem Belang:

  • wann und wie sich Textmuster herausbilden, die wir noch heute mit Zeitungstexten verbinden und wann sich die unterschiedlichen Textmuster sprachlich voneinander abgrenzen lassen;
  • inwieweit die äußere Gestaltung und die Rubrizierung die Identifikation unterschiedlicher Textmuster erlaubt;
  • wann die äußere Gestaltung durch rezeptionserleichternde sprachliche und grafische Elemente bereichert wird;
  • wann und unter welchen Bedingungen sich eine spezifische Textstruktur und ein besonderer Stil – vor allem in Hinsicht auf Lexik, Syntax und die Verwendung rhetorischer Vertextungsmuster – herausbilden und wann letzterer amts- und sondersprachliche Varietäten ablöst;
  • welches Kohärenzprofil Texte zu unterschiedlichen Zeiten aufweisen und wie sie ihr Verständnis ermöglichen;
  • welche Bedeutung Aktualität und Relevanz bei der Präsentation unterschiedlicher Information zukommen und an welchen kommunikativen Maximen sich die damaligen Verfasser orientieren;
  • in welchen Abhängigkeiten (mitteleuropäische) politisch-gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Textsortenentwicklung voneinander stehen und inwieweit Zeitungstexte eine Beteiligung an der politischen Öffentlichkeit erlauben.

Zur Beantwortung dieser Fragestellungen sind bisher kaum vorhandene Längs- und Querschnittuntersuchungen notwendig. Durch die geplanten Parallelprojekte können diese auch kontrastiv angelegt sein, um zu beurteilen, welche Regionen unter welchen Bedingungen möglicherweise eine Vorreiterrolle besitzen.

Da die Untersuchung der Textsortenentwicklung beispielsweise auch eine Skizze syntaktischer Profile voraussetzt, sind auch Ergebnisse aus diesem Bereich zu erwarten. Die Rolle der folgenden sprachlichen Einheiten in Abhängigkeit von der textlichen Form soll thematisiert werden:

  • der Aufbau von Nominalgruppen;
  • nominal-verbale Verbindungen und Funktionsverbgefüge;
  • die realisierten Satzmuster und Satzgefüge;
  • der Einsatz von syntaktisch relevanten rhetorischen Mitteln (z.B. Inversion und Parallelismus);
  • der Einfluss von fremdsprachlicher Lexik und Redewendungen (u.a. aus dem Tschechischen, Ungarischen oder auch Jiddischen);
  • der Einfluss von amts- und sondersprachlicher Lexik.

Besondere Bedeutung kommt dem kommunikativen Umfeld zu, da nach den bisherigen Ergebnissen der linguistischen Pressesprachenforschung politische Zäsuren und ökonomische Einschnitte gleichzeitig auch die Textsortenentwicklung beeinflussen (vgl. Bolten 1996, Meier 2014).

Die Sprache von Zeitungen ist selbstverständlich nicht nur hinsichtlich der Textsortenentwicklung interessant, sondern nach bisher vorliegenden Forschungsergebnissen auch in Hinsicht auf vielfältige Standardisierungsprozesse und Sprachkontaktphänomene. Im Projekt sollen vor allem folgende Bereiche näher untersucht werden:

Ausgleichsprozesse: In den Zeitungstexten zeigt sich, ob und wie deutschsprachige Varietäten (z.B. der Ausgleich von Dialekten) verarbeitet werden und ob sich die Pressesprache in unterschiedlichen Regionen vor allem auf den Ebenen der Orthographie, der Grammatik und der Lexik deckt.

Sprachkultivierungsprozesse: Der sprachhistorische Blick auf insbesondere das „lange“ 19. Jahrhundert ist u.a. von Untersuchungen des sog. bürgerlichen Deutschen beziehungsweise der Bildungssprache (und deren spätere Ablösung) und den damit verbunden Kommunikationsformen geprägt, die nicht nur Aufschluss über kommunikative Orientierungen, sondern auch über Mentalitäten (z.B. vorherrschende Lesekulturen) zulassen. Anhand der Pressetexte ist zu untersuchen, inwieweit herausgearbeitete Kennzeichen des bürgerlichen Deutschen Niederschlag in ihnen finden oder ob die bisherige Forschung Unterschiede in anderen Sprachgebieten nivelliert hat. Im Gegenzug ist zu überprüfen, ob die gegenläufige Tendenz: die „Industrialisierung“ und die „Ökonomisierung“ der Sprache (von einzelnen Lexemen bis hin zu Textsorten), normalerweise mehr oder weniger pauschal für das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts veranschlagt, sich in den Zeitungen findet, und ob neue kulturelle Orientierungen bzw. Werthaltungen, prototypisch gesetzt für das Kaiserreich, einen überregional geteilten Horizont besitzen.

Sprachnormierung und Sprachkritik: Zu den Sprachkultivierungsprozessen gehören auch die Sprachnormierung (die das 19. Jahrhundert charakterisierenden Bemühungen um die Vereinheitlichung der deutschen Orthographie) und die Sprachkritik (Fremdwortpurismus, z.B. des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins). Dabei ist zu überprüfen, inwieweit solche Normierungsversuche Niederschlag gefunden haben und wie weit die Wirkung von Sprachnormierung und Sprachkritik reicht.

Sprachkontaktphänomene: Die Zeitungsproduktion ist in Kaschau in ein mehrsprachiges Umfeld eingebettet. Hier ist vor allem zu untersuchen, ob und wie der Kontakt zu anderen Sprachen (Slowakisch, Ungarisch, Ukrainisch, Jiddisch etc.) erscheint. Zu denken ist hier besonders an Interferenzphänomene, jedoch auch an anders geformte Texttraditionen. Zudem ist zu überprüfen, ob und wie Zwei- oder Mehrsprachigkeit vorausgesetzt wird (vgl. Piller 2003).

Sprachzäsuren durch Sprachpolitik und Ideologisierung der Sprache: Politische Bewegungen besitzen entscheidenden Einfluss auf die Zeitungsproduktion. Von besonderem Interesse ist, wie nationalistische Sprachpolitik zum einen, ihre Okkupierung des öffentlichen Diskurses zum anderen – parallel zur Zerstörung kultureller und religiöser Welten –, dazu geführt haben, sprachliche und textliche Traditionen zu verdrängen, so dass eine Anschlussfähigkeit heute kaum noch gegeben ist (vgl. Gries 2006).

Grundsätzlich soll der Beitrag von Zeitungen als sich etablierendes Massenmedium zu Sprachwandelprozessen deutlich und dabei berücksichtigt werden, ob sich bestimmte Wandlungen gleichzeitig vollziehen und welche Faktoren eine möglicherweise regional gestaffelte Beteiligung an Sprachwandelprozessen sichtbar machen. Dies bedeutet auch eine stärkere Konturierung möglicher Einflussfaktoren (mediale, kulturelle und politische Rahmenbedingungen, Professionalisierung des Journalismus und der Werbung etc.).

 

 

Literaturhinweise

 

Bolten, Jürgen (1996): Öffentlicher Sprachgebrauch, oder was?! Zur diachronischen Textpragmatik und ihrer Anwendung am Beispiel des Themenbereiches Werbegeschichte als Zeitgeschichte in Deutschland. In: Böke, Karin/Jung, Matthias/Wengeler, Martin (Hrsg.): Öffentlicher Sprachgebrauch. Praktische, theoretische und historische Perspektiven. Georg Stötzel zum 60. Geburtstag gewidmet. Opladen, 283–300.

Gries, Rainer (2006): Produkte & Politik. Zur Kultur- und Politikgeschichte der Produktkommunikation. Wien.

Große, Rudolf (1991): Überlieferte Texte und erschlossene Sprachnormen – Grundfragen der Sprachgeschichtsforschung. In: Hörz, Herbert (Hrsg.): Soziolinguistische Aspekte der Sprachgeschichte. Dem Wirken Rudolf Großes gewidmet. Berlin, 8–20.

Meier, Jörg (2004): Städtische Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Historische Soziopragmatik und Historische Textlinguistik. (Deutsche Sprachgeschichte. Texte und Untersuchungen 2). Frankfurt/M. et al.

Meier, Jörg (2014): Anzeigenwerbung im 18. Jahrhundert. In: Meier, Jörg/Ernst, Peter (Hrsg.): Kontinuitäten und Neuerungen in Textsorten- und Textallianztraditionen vom 13. bis zum 18. Jahrhundert. (Germanistische Arbeiten zur Sprachgeschichte 10). Berlin, 275-291.

Piller, Ingrid (2003): Advertising as a Site of Language Contact. In: Annual Review of Applied Linguistics 23 (2003), 170–183.

Polenz, Peter von (1991): Mediengeschichte und deutsche Sprachgeschichte. In: Dittmann, Jürgen/Kästner, Hannes/Schwitalla, Johannes (Hrsg.): Die Erscheinungsformen der deutschen Sprache. Literatursprache, Alltagssprache, Gruppensprache, Fachsprache. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hugo Steger. Berlin, 1–18.

Polenz, Peter von (2000): Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 1: Einführung – Grundbegriffe – 14. bis 16. Jahrhundert. 2., überarb. und erg. Aufl. Berlin, New York.

Schank, Gerd (1984): Ansätze zu einer Theorie des Sprachwandels auf der Grundlage von Textsorten. In: Besch, Werner/Reichmann, Oskar/Sonderegger, Stefan (Hrsg.): Sprach­geschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.1), 2., vollst. neubearb. Aufl. Berlin, New York, 761–768.

Steger, Hugo (1998): Sprachgeschichte als Geschichte der Textsorten, Kommunikationsbereiche und Semantiktypen. In: Besch, Werner/Betten, Anne/Reichmann, Oskar/Sonder­egger, Stefan (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.1), 2., vollst. neubearb. Aufl. Berlin, New York, 284–300.

Wegera, Klaus-Peter (1998): Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte des Alltags. In: Besch, Werner/Betten, Anne/Reichmann, Oskar/Sonderegger, Stefan (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.1), 2., vollst. neubearb. Aufl. Berlin, New York, 139–159.